Kammermusikalischer Lichtstrahl auf der Insel Lesbos // Molyvos International Music Festival vom 8. bis 19. August 2019

Photocredit: Alex Grymanis

 

Inmitten der Wiege europäischer Kultur hat sich auf der Insel Lesbos mit dem Molyvos International Music Festival eines der außergewöhnlichsten Kammermusikfestivals weltweit etabliert, das 2019 seinen 5. Geburtstag feiert. Vor atemberaubender historischer Open-Air-Kulisse finden sich dort vom 16. bis 19. August Stars der Instrumentalszene zu einem vielstimmigen „DIA-LOGOS“ in unterschiedlichsten Besetzungen ein. Im Jubiläumsjahr haben die Künstlerischen Leiterinnen und Festivalgründerinnen Danae und Kiveli Dörken erneut ein „Pre-Festival“ (8. bis 12.8.) vorgeschaltet, das den Musikfreund für vier zusätzliche Konzerte an andere Orte auf Lesbos sowie

erstmals auf die benachbarte Insel Chios lockt. Am 13. August gibt es ein Konzert, das das Thema des letzten Jahres „Genesis“ mit dem diesjährigen Motto verbindet. Ab diesem Tag versprechen die Veranstalter auch besondere „Musical Moments“ – Auftritte ein- bis zweimal täglich an Überraschungsorten, die erst am Tag selbst bekannt gegeben werden.

 

Mit dem Molyvos International Music Festival (MIMF) geht eines der glitzerndsten Kleinode der europäischen Festivallandschaft 2019 bereits in sein fünftes Jahr. Die erfrischende Unkonventionalität dieses Unternehmens, das inmitten der schwelenden Flüchtlingskrise auf der griechischen Insel Lesbos die Köpfe, Ohren und Herzen der Menschen für die grenzüberschreitende und internationale Sprache der Musik öffnen will, steht Mitte August unter dem sprechenden Motto „DIA-LOGOS“. Vorgeschaltet haben die Veranstalter vier „Pre-Festival Activities“ mit reizvollen Kammermusikprogrammen, die dazu einladen, ab dem 8. August zunächst andere (Musik-)Orte der Insel zu erkunden oder eine Stippvisite auf die benachbarte Insel Chios zu unternehmen. Die sechs Hauptkonzerte finden dann in Molyvos selbst statt, das als denkmalgeschützter Ort im Inselnorden den Besucher in eine ganz eigene Welt entführt – mit seinen singulären Natursteinhäusern, mittelalterlichen Treppen, kleinen Gässchen, türkischen Brunnen und byzantinischen Mauern sowie der über allem thronenden byzantinischen Festung, die Spielort von fünf Programmen ist.

 

Geschichte liegt hier überall in der Luft – ebenso wie das Festivalmotto und -programm fast zwangsläufig auf griechische (Philosophie-)Geschichte verweist: So fand das Wort „dialogos“ seine Verbreitung durch die berühmten Sokratischen Dialoge, die der antike Denker als Instrument verstand, um „in kleinen und kleinsten Gruppen das eigenverantwortliche, selbstbestimmte Denken des Einzelnen zu fördern“. Was für eine ideale Vorgabe auch für gemeinsames Musikmachen und -hören, insbesondere für unbekannte bzw. neue Literatur, wie sie 2019 u.a. von KomponistInnen wie David Orlowsky (der als Klarinettist auch zur Interpretenfamilie dieser Kammermusiktage zählt) , der fast gehörlosen Britin Evelyn Glennie oder dem Griechen Nickos Harizanos (eine Welturaufführung) erklingen wird.

 

Damit noch nicht genug, durchschreitet das Molyvos Festival an seinen vier Haupttagen innerhalb der einzelnen Programme den dialektischen Dreischritt These – Antithese – Synthese, unterbrochen durch Phasen der musikalischen Versöhnung („Reconciliation“) und des Dialogs. Dieses bis ins Kleinste durchdachte Gebäude der Programmgestaltung zeugt von echten Überzeugungstätern, wie es alle Ausführenden des diesjährigen Festivals mit den beiden Künstlerischen Leiterinnen Danae und Kiveli Dörken an der Spitze zweifellos sind. Dafür spricht auch die berückende neue Idee, im Festivalvorfeld ein „Verbindungskonzert“ (13.8.) im Leimonas-Kloster zu veranstalten, bei dem der norwegische Percussion- und Cimbalom-Spieler Hans-Kristian

 

Kjos Sørensen die Brücke zum letztjährigen Motto schlägt und das entsprechend mit „From Genesis to Dialogue“ betitelt ist.

 

In den ersten beiden der vier „Pre-Festival“-Konzerte steht Streicherliteratur in solistischer bis Trio-Besetzung auf dem Programm, dargeboten von Elene Meipariani (Vl.), Johanna Ruppert (Va.) und Friedrich Thiele (Vc.). Auf Chios, im Citrus (8.8.), erklingen Trios von Ernst von Dohnányi und Gideon Klein sowie Duos von Maurice Ravel und Georg Friedrich Fuchs; zwei Tage später auf Lesbos in der frühchristlichen Basilika von Eresos (10.8.) dann Werke von Beethoven, Schubert und Reger sowie Solokompositionen von Alfred Schnittke (Fuge für Violine solo) und Krzysztof Penderecki („Violoncello totale“). Die beiden anderen „Pre-Festival“-Programme gestaltet das Klavierduo Xin Wang und Florian Koltun mit Mozart, Brahms und Rossini in Mytilene (11.8.) sowie mit Debussy und Schubert in Kalloni (12.8.).

 

Das Hauptfestival, dessen Konzerte aus dem Burghof der Festung in Molyvos live vom griechischen Nationalradio übertragen werden, startet mit der „Thesis“, untertitelt „Chaos & Order“ (16.8.) (auch wieder ein Rückbezug zum letztjährigen Thema „Genesis“): Hier kann das Publikum beim barock auskomponierten Chaos durch Jean-Féry Rebel (aus „Les  Élements“) einen  Großteil des  musikalischen Virtuosenpersonals  der kommenden Tage unter die Lupe nehmen. Zumal das übrige Repertoire des Eröffnungskonzerts weitere herausragende Musiker sowie außergewöhnliche Partituren präsentiert: Kirill Troussov und Danae Dörken mit einer Chaconne von Tomaso Antonio Vitali, Christian und Tanja Tetzlaff mit Artur Pizzarro und Volker Jacobsen beim Dvořák-Klavierquartett Es-Dur op. 87, Hans-Kristian Kjos Sørensen mit „Psappha“ von Iannis Xenakis sowie eine namhafte Quintettbesetzung mit Karl Jenkins‘ „Palladio“.

 

Mit „Antithesis“ ist der zweite Festivaltag des MIMF überschrieben, der sich mittags im Mithymna Conference Centre „War & Peace“ (17.8.) widmet – mit Streichquartetten bzw. -Quintetten von Dvořák („Zypressen“) und Mozart (KV 516) sowie Evelyn Glennies „A Little Prayer“ für Violine und Marimbaphon. Am Abend folgt dann – wieder zurück in der historischen Festung – der Dialog „Apollo & Dionysos“ mit dem Sextett op. 100 von Francis Poulenc, dem Klavierquintett op. 8 von Josef Suk, Benjamin Brittens „Young Apollo“ op. 16 für Klavier und Streichorchester sowie der Uraufführung „Faces of the archaic dipolum“ aus der Feder des in Athen geborenen Nickos Harizanos.

 

Der Folgetag dient der „Reconciliation“ und schwankt zwischen „Hope & Despair“ (18.8.). Der Abend startet schon etwas früher zunächst mit einem „Young People’s Concert“ – die Förderung des Nachwuchses ist seit dem ersten Tag ein zentrales Anliegen des MIMF und schlägt sich in (Schul-)Projekten und Workshops auf Lesbos über das ganz Jahr nieder. Beim sich anschließenden Konzert der Profis warten dann spannende Repertoireentdeckungen auf den Zuhörer: Neben Gutbekanntem wie Mozarts „Kegelstatt-Trio“ (KV 498), Faurés „Sicilienne“ (aus „Pelléas et Mélisande“) oder dem Dvořák-Terzett op. 74 finden sich hier auch Xenakis‘

„Rebonds B“ sowie kurzweilige Kompositionen von David Orlowsky und Osvaldo Golijov auf dem Programmzettel.

 

Den Abschluss bildet die „Synthesis“ (19.8.) mit noch einmal größeren kammermusikalischen Besetzungen für Johann Michael Haydns Divertimento C-Dur P 98, das Oktett As-Dur op. 128 von Ferdinand Ries sowie das Brahmssche Streichsextett Nr. 2 G -Dur op. 36.

 

Gleich in mehrfacher Hinsicht schreibt das MIMF Festivalgeschichte neu und macht Kammermusikkonzerte auf seine besondere Weise zukunftsfähig. Gerade auch weil es sich ganz unmittelbar mit der realpolitisch-sozialen Wirklichkeit konfrontiert – und die Künstler im Angesicht der weiterhin ungelösten Tragik der Flüchtlingskrise nicht wegschauen, sondern im Brennpunkt ihre (musikalische) Botschaft platzieren. So empfand es auch Simon Rattle bereits 2016 in seinem Grußwort für das Festival: „In dieser seltsamsten Phase unserer jüngeren Geschichte, inmitten dieser Idiotie ist das, was ihr macht, noch inspirierender. Tief in meinem Herzen glaube ich daran, dass Musik und Kultur Menschen zusammenbringen und Heilung bewirken können. Ihr seid ein Lichtstrahl in dunkler Zeit.“

 

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