Es ist weit mehr als nur Bewunderung oder Dankbarkeit, die Vadim Gluzman mit dem Jahrhundertgeiger Henryk Szeryng (1918–1988) verbindet. Vielleicht ließe sich von einer gleich gestimmten musikalischen
Geisteshaltung sprechen, einem unausgesprochen gemeinsamen Verständnis für Musizieren und Partitur- Auslegung. Sicher handelt es sich aber auch um etwas, das sich der Sprache schlichtweg verschließt, dafür jedoch im Violinspiel seinen schönsten Widerhall findet. So hat Vadim Gluzman den Schwerpunkt seiner Saison 2018/19 diesem vor 100 Jahren geborenen polnischen Violinvirtuosen gewidmet: An neun Konzertorten quer durch Europa, die eng mit der Biografie Szeryngs verknüpft sind, wird er ihm in sinfonischen wie kammermusikalischen Formaten musikalische Referenz erweisen.
Weitere Höhepunkte der aktuellen Gluzman-Saison im deutschsprachigen Raum markieren ein Auftritt mit dem Basque National Orchestra in Bregenz, die Aufführung von Sofia Gubaidulinas „Offertorium“ in Linz mit dem Rostov Symphony Orchestra, das Jubiläumskonzert zum 300. Geburtstag des Verlags Breitkopf & Härtel in Wiesbaden sowie sein Debüt bei der NDR Radiophilharmonie in Hannover.
„Henryk Szeryng ist für mich einer der vollständigsten Musiker in der Geschichte, jemand, dessen atemberaubende technische Fähigkeiten stets nur im Dienste der Musik standen und nie nur der reinen Wirkung dienten. Absolut kompromisslose Kunstfertigkeit, intellektuelles Verständnis der Partitur und unglaublicher emotionaler Reichtum seines Spiels sind für mich seit vielen Jahren ein leitendes Licht.“
Vadim Gluzmans künstlerische Biografie ist in vielerlei Hinsicht eng mit diesem Ausnahmevirtuosen verknüpft: Als 21-Jähriger wurde er mit dem Henryk Szeryng Foundation Career Award ausgezeichnet, auf seiner CD „Fireworks“ (2008) spielte er erstmals das Szeryng-Arrangement von Ernesto Halffters „Habanera“ ein, der gebürtige Ukrainer musiziert heute mit einem Dominique-Peccatte-Bogen aus der Sammlung des Polen und hat zudem täglich dessen Bild vor Augen: „Wenn ich meinen Geigenkasten öffne, blicken mich als Erstes Fotos von Oistrach und Henryk Szeryng an. Das ist meine musikalische Heimat.“
Am 30. Januar 2019 stehen dann beim Jerusalem Symphony Orchestra unter Frédéric Chaslin ein weiteres Mal das Bach’sche Doppelkonzert BWV 1043 (mit Michael Shaham, 2. Solovioline) sowie Beethovens Violinkonzert auf dem Gluzman’schen Konzertkalender. Szeryng pflegte Zeit seines Lebens eine tiefe, enge Verbindung zu Israel und war auch mehrfach gefeierter Gastsolist des Jerusalem Symphony Orchestra, wovon noch heute einige YouTube- Videos hörenswertes Zeugnis ablegen. Die Geburtsstadt Warschau des polnischen Virtuosen, dessen Spiel von außerordentlicher Klarheit, Genauigkeit und „fast unpersönlicher Vollendung“ (Antonio Mingotti) geprägt war sowie von einem „genialischen Talent, das wohl von keinem Lebenden übertroffen“ wurde (Joachim Kaiser), ist am 15. und 16. Februar 2019 die nächste Gedenkstation, an der Gluzman wiederum das Brahms-Konzert präsentiert, hier mit dem Warsaw Philharmonic Orchestra unter Jacek Kaspszyk.
Anschließend geht es nach Norddeutschland – dort konzertierte auch Szeryng mit besonderer Vorliebe –, nun aber mit einem anderen Repertoire: Vivaldis populärem Konzert für zwei Violinen und Streichorchester op. 3,8 aus „L’Estro Armonico“ sowie Tschaikowskys Solokonzert D-Dur op. 35, begleitet vom NDR Elbphilharmonie Orchester unter Krzyszof Urbanski (21. und 24.2. in der Elbphilharmonie Hamburg, 22.2. in der Musik- und Kongresshalle Lübeck). Dazwischen wird Gluzman, der wie Szeryng ein engagierter Pädagoge ist und seit dem Wintersemester 2018/19 am Peabody Conservatory der John Hopkins University lehrt, am 23. Februar im Hamburger TONALi Saal ein Kammerkonzert geben, in dem er gemeinsam mit Evgeny Sinaiski (Klavier) die Nachwuchsgeigerin mit Lara Boschkor (Violine) vorstellt – auch dieses Programm besticht mit ausgesuchten Kleinoden aus dem Szeryng’schen Repertoire inkl. der berühmten Bach-Chaconne aus dessen Solo-Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004. Anfang der 1950er- Jahre erhob die „Times“ Szeryng zum „besten Bach-Geiger“ jener Zeit. Seinen Grabstein auf dem Friedhof von Monaco ziert heute eine Notenzeile: der Schluss der Ciaconna aus jener Bach’schen Partita. Für Vadim Gluzman steht außer Frage: „Als großer Musiker, Philanthrop und Pädagoge gehörte Maestro Szeryng zu den hellsten Sternen des Goldenen Zeitalters der Violine.“
Knapp drei Monate später präsentiert sich Gluzman dann nochmals dem deutschen Publikum, wenn er in Hannover (9./10.5.) mit Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 1 a-Moll op. 77 bei der NDR Radiophilharmonie unter Giancarlo Guerro spielen wird.