Photo by CHOU Tung-yen and Very Mainstream Studio
Regen, das Meer, Reisfelder im Wind, weiße Kraniche – verbildlicht durch eine Choreographie, die chinesische Kampfkunst, Qi Gong, Ballett und zeitgenössischen Tanz vereint, klanglich untermalt von zeitgenössischer als auch traditioneller Musik und indigenen Gesängen, begleitet von auf Chinesisch vorgetragenen taiwanesischen Gedichten, und illustriert durch chinesische Kalligraphie – das letzte, 70-minütige Stück des taiwanesischen Choreographen Lin Hwai-min als Künstlerischem Leiter des Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan ist eine poetische Hommage an die schöne grüne Insel Taiwan – Formosa – wie sie die portugiesischen Seefahrer im 16. Jahrhundert nannten, ihre Bewunderung für die Insel ausdrückend ( „Ilha formosa“, portugiesisch für „schöne Insel“). Das Stück „Formosa“ wurde am 24.11.2017 im National Theatre Taipei, Taiwan, uraufgeführt. Lin Hwai-min, der das für seine Verschmelzung von Tradition mit Moderne bekannte Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan im Jahre 1973 gegründet hatte, gilt als wichtigster Choreograph Asiens.
Die Bühne ist gleichzeitig Leinwand für in weißer Schrift projizierte chinesische Schriftzeichen (Lichtdesign: Lulu W. L. Lee; Videodesign: Chou Tung-yen und Very Mainstream Studio). Eine männliche Erzählerstimme zieht sich wie ein roter Faden durch das Stück, in wohlklingender Melodie und mit für europäische Ohren exotisch anmutenden Lauten. Erst später bemerke ich, dass links und rechts neben – ebenso wie direkt über – der Bühne Bildschirme aufgestellt sind, die die deutsche Übersetzung der chinesischen Erzählerstimme abspielen –– allerdings leider bedingt zu verfolgen, wenn man wie ich in den vorderen Reihen sitzt und den Blick nicht von der tänzerischen Darbietung abwenden möchte.
Neben der Erzählerstimme aus dem Off wird das Stück umrahmt von zeitgenössischer als auch traditioneller taiwanesischer Musik (Musik: Kaija Saariaho, Gérard Grisey, Liang Chun-mei, Sangpuy Katatepan Mavaliyw), Lieder der Puyuma, einem der Ureinwohnervölker Taiwans, mit der betörenden Stimme des Puyuma Sängers Sangpuy Katatepan Mavaliyw.
Die Stimme erzählt von Formosa, der schönen grünen Insel, von ihren Reisfeldern, der Reisernte, wie es früher war, und wie es heute ist: mit Straßen, Stau, Konflikten, Menschen, die durch den Alltag hasten – und davon, dass es in mancher Region 200 Tage im Jahr regnet. Die Tänzerinnen und Tänzer wiegen und beugen sich wie Reisfelder im Wind, wie die Wogen des Meeres, durchqueren die Bühne mit fließenden Bewegungen in alle Richtungen wie Menschen auf dem Weg zur Arbeit, und so entsteht, durch ihre weichen Bewegungen und die sanfte Erzählerstimme, vor dem inneren Auge ein nostalgisches Bild der Insel mit ihren grünen Reisfeldern und von ihren heutigen Städten.
Die Tänzerinnen und Tänzer tragen locker fallende Kleidung aus Baumwollstoff (Kostüme: Apu Jan) in gedeckten, organischen Farben, den Farben der Insel – ockerfarben, moosgrün, felsgrau, ozean- und nachtblau. Die Gesichter einiger der Tänzer erinnern durch schwarz bemalte, hervorgehobene Augenbrauen an Stammesbräuche. Zwischendurch, als die Erzählerstimme von einem weißen Reiher in einem Reisfeld erzählt, erscheint eine Tänzerin symbolhaft in einem langen weißen Kleid und tanzt mit anmutigen Bewegungen, ihre Arme ausgebreitet wie die Schwingen eines Reihers.
Die ästhetischen Bewegungen der 24 Tänzerinnen und Tänzer, allesamt wunderschön anzusehen und unterschiedlichster Statur und Größe, lassen eine Ausbildung in zeitgenössischem Tanz und Ballett, Meditation, Qi Gong und innerer Kampfkunst erahnen.
Besonders eindrucksvoll sind die choreographierten Kampfszenen, begleitet von Trommel- und Paukenschlägen und traditionellen Instrumenten. Einzelne Kämpfer zwei sich gegenüberstehender Gruppen treten gegeneinander an, stampfen bedrohlich mit dem Bein auf, bereit für den Angriff, und demonstrieren ihre Kampfkunst, mit höchster Körperspannung, Kraft und Sprungfertigkeit, kämpfen miteinander, bis schließlich die gesamte Gruppe miteinander ringt, mit federnden Sprüngen, miteinander über den Boden rollend, ein nach außen willkürlich wirkendes, doch exakt choreographiertes Kampfritual. Mit kontrollierten, gestreckten Bein- und Armbewegungen und auffällig präzisen Fußbewegungen bieten sich dem Betrachter trainierte, flexible Körper, die sich unter hoher Spannung biegen, wenden, drehen und mit imponierender Sprungkraft durch die Luft fliegen. Bisweilen tanzen die Tänzerinnen und Tänzer paarweise, wie in Zeitlupe, mit Bewegungselementen aus Meditation und Kampfkunst, und bringen dabei Leidenschaft, Begehren und Sehnsucht, aber auch Abweisung und Abwehr zum Ausdruck.
Eine Tänzerin tritt allein auf die Bühne, der ganze Körper zitternd, bebend, ein Tänzer kommt hinzu und nähert sich ihr vorsichtig, umschließt sie mit seinen Armen, doch sie entreißt sich, taumelt weiter über die Bühne, bis sie sich mit einem Mal blindlings nach hinten fallen lässt – und gerade noch rechtzeitig vom Tänzer aufgefangen wird – ein effektvoller Moment. Es ist eine dramatische Szene, wie er ihren leblosen, schlaffen Körper auf den Armen trägt, man spürt förmlich die Trauer. Als ob er sie wieder zum Leben zu erwecken versucht, richtet er die Tänzerin auf seinem Bein auf, und während kurzzeitig ein Hauch von Leben in sie zurückzukehren scheint, erschlafft sie doch wieder, diesmal endgültig.
In den letzten Szenen wird eine Videoaufnahme des Meeres mit Wellengang abgespielt (Video: Chang Hao-jan (Howell)), bevor die Bühne gänzlich in weißes Licht getaucht wird, ein offenes weißes Quadrat, in dem ein einzelner, dem Publikum zugewandten Tänzer steht; dann geht der Vorhang abrupt zu.
Zum Ende der Vorstellung tritt auch der anwesende Choreograph Lin Hwai-min auf die Bühne und wird unter großem Beifall mit seinen Tänzerinnen und Tänzern vom Publikum gefeiert – darunter auch Vertreter des Taiwanesischen Konsulats in Berlin – was einmal mehr die Besonderheit dieses Abends, dieser großartigen Choreographie unterstreicht.
Johanna Wolter