Wer in der Presse die enthusiastischen Reaktionen auf die letzten Opernfestspiele Heidenheim überfliegt, spürt sofort: Hier ist in den vergangenen Jahren unter dem Künstlerischen Leiter Marcus Bosch etwas Außergewöhnliches gewachsen – nämlich ein Festival, das aus dem sommerlichen Open-Air- Einerlei markant herausragt und sich mittlerweile auf der Zielgeraden zu einer internationalen Marke befindet.
Die Kulturfeuilletons sehen bereits Parallelen zu solchen Outstanding-Festivals wie Glyndebourne oder Bayreuth und das schwäbische Festspielorchester rekrutiere sich ganz offensichtlich „nach dem Vorbild von Luzern aus handverlesenen Überzeugungstätern“ (concerti). „Natürlich freut es mich, mit welchen anderen Festivals wir in einem Atemzug genannt werden“, sieht Marcus Bosch seine langjährige Aufbauarbeit bestätigt. Damit scheint das raffiniert gewählte PR-Akronym „OH!“ der Opernfestspiele Heidenheim quasi selbsterfüllend zu wirken, staunt man doch verwundert, wie hier künstlerische Qualität und programmatische Innovation in Verbindung mit maximalem Publikumsinteresse und wirtschaftlichem Erfolg einen harmonischen Vierklang bilden. Das belegen auch die nackten Zahlen der zurückliegenden Sommersaison: 17.600 Besucher, sämtliche Vorstellungen des „Fliegenden Holländer“ ausverkauft, dazu eine 99- Prozent-Auslastung der sinfonischen Konzerte. Mehr geht nicht. Oder doch?
Musik und speziell Musiktheater werden nicht im luftleeren Raum gemacht, sondern sehen sich stets auch mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Realität konfrontiert. Diesbezüglich schärfen die Opernfestspiele Heidenheim 2018 ihr Profil nachhaltig, ist doch für den kommenden Sommer das Motto „Zuflucht“ als thematischer roter Faden ausgelegt. Mit den Neuinszenierungen der beiden Verdi-Opern „Nabucco“ und „I Lombardi“ sowie dem Kinderstück „Moses‘ Entscheidung“ kommen drei große Erzählungen auf die Bühne, die geprägt sind „von Hoffnung, Angst, Verfolgung, Vertreibung, Errettung und nicht zuletzt – und trotzdem – auch von berührenden Liebesgeschichten im Dunstkreis erdrückender Mächte“, so Marcus Bosch. Was der Festspielbesucher dabei als persönlichen Jetztbezug herauslesen mag, bleibe ihm freilich selbst überlassen: „Aktuelles Weltgeschehen im Brennglas der Oper? Musikalisch-dramatische Verdichtung, die uns den persönlichen Blick ermöglicht und gerade damit auch eine Bewertung und Einordnung des Aktuellen? Schärfung unseres Blicks durch künstlerisches Arbeiten und Erleben? Ich wünsche es mir.“
In Giuseppe Verdis „Nabucco“ (Premiere: 29.6.2018) steht mit dem alttestamentlichen König Nebukadnezar eine Herrscherfigur im Zentrum, die sich selbst göttliche Gewalt zuspricht und im Größenwahn ganze Völker auszulöschen gedenkt. Ein Bühnenstoff, der heute kaum aktueller sein könnte: Unbedingte Freiheitssehnsucht und Kampf gegen Unterdrückung sind die zentralen dramatischen Triebfedern dieser Oper, mit der Verdi sein Durchbruch als Komponist gelang und die ihn über Nacht zu einem öffentlichen „homo politicus“ machte. Gilt doch das berühmte „Va, pensiero“, der sogenannte „Gefangenenchor“ oder auch „Freiheitschor“, bis heute als die heimliche Hymne aller Unterdrückten. Die Hauptrolle gestaltet der gebürtige Südkoreaner Antonio Yang, der das Heidenheimer Publikum bereits mit den Titelpartien in Verdis „Macbeth“ (2015) und Wagners „Fliegendem Holländer“ (2017) zu begeistern wusste. Die Armenierin Astghik Khanamiryan in der Rolle der Abigaille (im Wechsel mit Ira Bertmann) wird europaweit für ihr dunkel eingefärbtes und kräftiges Soprantimbre gefeiert, mit dem sie sich 2016 den Ersten Preis beim Internationalen Gesangswettbewerb „Grandi Voci“ in Salzburg ersang. Und die Figur des Hohepriesters Zaccaria gestaltet der Kanadier Randall Jakobsh (sowie Pavel Kudinov), der seine Verdi-Kompetenz in der laufenden Saison auch am Leipziger Opernhaus unter Beweis stellt. „Ich glaube, es ist uns wieder gelungen, wunderbare unverwechselbare Casts zusammenzustellen“, zeigt sich der Festivalchef Bosch überzeugt. Die Regie bei „Nabucco“ übernimmt die mittlerweile an zahllosen deutschen Bühnen von Chemnitz bis Bayreuth bestens beleumundete Helen Malkowsky. Für die außergewöhnlich große Chorpartie konnte wieder der Tschechische Philharmonische Chor Brünn gewonnen werden, der im vergangenen Sommer zu einem echten Publikumsliebling avancierte („musikalisches Sahnehäubchen des Abends“, schrieb etwa der Humanistische Pressedienst). Und am Pult der Stuttgarter Philharmoniker wird der Festivalleiter selbst stehen, so wie schon 2017: „Leidenschaftlich knackig, doch ohne jeden Schwulst entfacht Bosch mit seinen Musikern die Sehnsucht und die Stürme nach innen.“ (Schwäbische Post)
Die vor zwei Sommern gestartete Verdi-Reihe des Festivalorchesters Cappella Aquileia inklusive Radiomitschnitt (Deutschlandfunk Kultur) und CD-Veröffentlichung (im kommenden April erscheint zunächst der 2017er-Mitschnitt von „Un Giorno di Regno“) findet mit „I Lombardi“ (Premiere 19.7.2018 im Festspielhaus) in der Inszenierung von Tobias Heyder ihre Fortsetzung. Auch hier wieder ein Plot, der sich leicht in die Jetztzeit spiegeln lässt: nämlich die Konfrontation von Muslimen und Christen, im Solera-Libretto freilich vor der historischen Leinwand der mittelalterlichen Kreuzzüge. Die beiden zentralen Partien der lombardischen Kreuzfahrer-Anführer übernehmen Marian Talaba (als Arvino), der als langjähriges Wiener-Oper-Mitglied u.a. schon mit Placido Domingo und Edita Gruberova auf der Bühne stand, sowie Pavel Kudinov (als Pagano), der in der abgelaufenen Saison am Basler Theater den Marchese di Calatrava in Verdis „La Forza del Destino“ verkörperte. Auch hier kommt der Brünner Chor zum Einsatz – neben der Cappella Aquileia, dem Hausorchester der Heidenheimer Festspiele, das einen außerordentlichen Ruf genießt und mit seiner „irrsinnigen Präzision und einem wunderbaren Klang und voller Energie“ (SWR 2) zu einem veritablen Spezialensemble für Verdi-Partituren herangereift ist. Mit der Werkauswahl für 2018 zeigt es zugleich auch die ungebrochen hohe Relevanz des Verdi‘schen Musiktheaters für die brandaktuelle gesellschaftliche Diskussion und liefert dazu einen hörenswerten Beitrag, so Marcus Bosch: „Ich glaube, dass dieser Verdi-Doppelpack mit ‚I Lombardi‘ und ‚Nabucco‘ und das Thema Zuflucht nicht besser in unsere Zeit passen könnten.“
Dass die Heidenheimer Opernfestspiele zudem mit ihrem Kinderoper-Angebot die Zeichen der Zeit längst erkannt haben, davon zeugen über 2.500 Besucher (Rekord!) beim letztjährigen Stück „Tortuga“. 2018 steht nun „Moses‘ Entscheidung“ (Premiere: 13.6.) auf dem Programmzettel im Opernzelt im Brenzpark. Altersgerecht wird sich hier ebenfalls dem Festivalmotto angenähert, wenn der Librettist Kai Weßler und die Regisseurin Annika Nitsch unter der musikalischen Leitung von Sebastian Schwab den Kampf gegen Ungerechtigkeit und Tyrannei, aber auch den Generationenkonflikt in Form einer jugendlichen Heldengeschichte zum Musiktheaterstoff machen und darin aufzeigen, dass es sich lohnt, für seine Ziele und Überzeugungen einzustehen.
Auch das sinfonische Konzertangebot der Heidenheimer Opernfestspiele 2018 lässt sich bestens auf die thematische Klammer „Zuflucht“ beziehen: etwa das Klarinettenkonzert des zeitweise inhaftierten türkischen Bürgerrechtlers und Komponisten Fazıl Say im Eröffnungskonzert (24.6., Staatsphilharmonie Nürnberg unter Josep Caballé-Domenech, Solist Reto Bieri) oder Beethovens Sinfonie Nr. 9 und ihrem Chorfinale „Ode an die Freude“ als hymnischer Botschaft der Menschlichkeit und Symbol der Freiheit im Galakonzert (8.+9.7. mit der Cappella Aquileia unter Marcus Bosch). Und auch in der beschwingten Gershwin-Gala im Rahmen der Last Night (28.+29.7. mit den Stuttgarter Philharmonikern) bleibt die Festivalthematik nicht außen vor, erklingen darin doch Ausschnitte aus der Oper „Porgy and Bess“, die erstmals die afroamerikanische Bevölkerung zum ausschließlichen Bühnenpersonal machte – und das in einer Zeit, als in den USA strikte Rassentrennung herrschte. Die unüberhörbaren Jazz-Anklänge bei Gershwin schlagen auch die Brücke zu einem etwas anderen sinfonischen OH!-Angebot: der Jazzgala (12.7.) im Rittersaal Schloss Hellenstein, wo der ECHO-prämierte Komponist Christian Elsässer und seine Band gemeinsam mit Max Mutzke die Zuhörer in eine Welt jenseits der Konventionen des herkömmlichen Big-Band-Jazz entführen wird.
Für den Konzertbesucher, der seine Zuflucht ob solch massiver Orchestersounds in der Kammermusik sucht, ist Heidenheim 2018 gleichermaßen einen Besuch wert: Ein eigens konzipiertes Programm mit barocker Vokal- und Instrumentalmusik präsentiert der Blockflötist Stefan Temmingh gemeinsam mit Dorothee Mields (Sopran) und der lautten compagney BERLIN von Wolfgang Katschner stilgerecht in der Pauluskirche (15.7.). Chormusik erklingt in der Abteikirche des Klosters Neresheim durch das von Marcus Bosch gegründete Vokalwerk Nürnberg (22.7., Leitung Andreas Klippert) und in der Schlosskirche lässt das Quartett Goldmund den intimen Zauber des vierstimmigen Musizierens erstehen (25.7.).
Dass sich im Übrigen Musik- und Essensgenuss nicht gegenseitig ausschließen müssen, zeigen die beliebten (und schnell ausgebuchten) OH!-Angebote wie der 2018 zweimal anstehenden Blaue Abend mit kurzweiligen musikalischen Kanapees und einem Drei- Gänge-Menü, das Jazz-Frühstück, ein Verdi-Diner oder schließlich die traditionelle Schlossbergtafel unter freiem Himmel, zu der sich jeder seine Verpflegung selbst mitbringt oder einen Korb vorab im Schlosshotel bestellt.
Mit dem Start des erweiterten Kartenvorverkauf am 27. November 2017 kann aus diesem prall gefüllten Picknickkorb musikalischer Delikatessen ausgewählt werden. Und der anspruchsvolle Musikfreund findet damit während der spielzeitfreien Juli-Wochen in Heidenheim seine Zuflucht zu verbriefter Qualität, so Peter Krause (concerti.de): „Der dirigierende Festivalintendant Marcus Bosch und sein Regieteam beweisen: Masse und Klasse, Open-Air-Atmosphäre und Opern-Anspruch, Publikumsnähe und interpretatorische Haltung schließen sich mitnichten aus, nein, sie bedingen sich! Die Opernfestspiele Heidenheim senden ein Ausrufezeichen der Qualität in die ansonsten immer mehr von niedrigschwelligem Kunstkonsum geprägten Sommerfestivals.“