Heinrich Heine (Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim, 1831)
Heinrich Heines Gedicht Jetzt wohin?*, das ich zugegebenermaßen erst kürzlich entdeckte, kann als eine poetische Metapher für die gegenwärtig um sich greifende Orientierungslosigkeit gelesen werden – aber auch als ironischer Kommentar dazu.
Die ungekrönten, verfluchten Corona-Zeiten belasten uns längst alle, in verschiedenster Hinsicht. Erfreuten sich anfangs “Solo-Selbständige”, seien es Künstler oder schlicht Autoren, noch an ihrer “splendid isolation”, in welcher sie sich vermeintlich ohne die übliche Ablenkung durch Termine und gesellschaftliche Verpflichtungen mit voller Konzentration ihrer (Autoren-)Tätigkeit widmen konnten, so herrschen nun auch in den kreativen Köpfen zunehmend Ernüchterung, Sorge und – Orientierungslosigkeit vor.
“Worüber soll ich schreiben, für wen, mit welcher Intention, und wenn ja – warum?”
Für wen komponieren Sie eigentlich? fragte der Musikjournalist Hansjörg Pauli in seinem 1971 erstmals erschienen Büchlein eine Reihe von “Avantgarde”-Komponisten jener Zeit. Damals, vor rund fünfzig Jahren, drehte sich zwar nicht alles aber vieles in der Kunst(-Rezeption) um den Begriff der “gesellschaftlichen Relevanz”. Heute wissen wir, dass Kunst zumindest von der Politik (vor allem in “Corona-Zeiten”) nicht als systemrelevant, sondern eher als Unterhaltung, als Dekoration – als “schöner Schein” erachtet wird.
“L’art pour l’art” wäre in dieser Situation also vielleicht wieder eine angesagte Option – wenn nicht selbst oder gerade der kreative Geist Nahrung bräuchte: soziale Nahrung in Form von Aufmerksamkeit, Anerkennung – neben schönen Worten (des Lobes wie der Kritik) gerne auch materiellen Lohn –, vor allem aber die lebendige Auseinandersetzung mit dem “generalisierten Anderen”. George Herbert Mead, der US-amerikanische Philosoph und Sozialpsychologe (1863-1931) formulierte in seinem Buch “Die Genese des sozialen Selbst” als einer der ersten die bahnbrechende (inzwischen längst wissenschaftlich erwiesene) Erkenntnis, dass jeder Mensch den generalisierten Anderen existentiell braucht, um sein (soziales) Selbst überhaupt entwickeln und erkennen zu können.
Glücklicherweise (oder etwa fataler Weise?) sind Künstler und Autoren auch nur Menschen. Längere Zeiten des “social distancing”, wie sie die Pandemie seit etwa zehn Monaten gebietet, bekommen ihnen also ebenso wenig wie gewöhnlichen Sterblichen. Aber wahrscheinlich bewirken der Mangel an echter (face to face) Kommunikation, an Auftrittsmöglichkeiten, an Konfrontation mit Publikum und Kritik bei der künstlerisch (geistig) produktiven Bevölkerungsgruppe auf Dauer einen noch entscheidenderen Mangel: an der nötigen Inspiration, die nämlich keineswegs vom Himmel fällt, sondern sich letzten Endes wie jede menschliche Identität dem Sozialspiegel des “generalisierten Anderen” verdankt.
Bedenken wir also, dass “Corona” neben den vielfach diskutierten und publizierten politischen, wirtschaftlichen, gesundheitlichen Aspekten möglicherweise auch eine noch weitgehend undefinierte geistige Orientierungslosigkeit zeitigen wird – wobei in unserer globalisierten Welt auch die Frage nach geografischen Alternativen sinnlos geworden ist. Überraschenderweise war sie auch schon sinnlos für Heinrich Heine, als er die “Lamentatio” (Klagelied) Jetzt wohin 1851 in seinem “Romanzero” veröffentlichte.
Wolfgang Korb