“Carmen” am Theater Lübeck: Wenn Freiheit auf Tragödie trifft und das Schweigen bricht

carmen prolog- foto von Jochen quast

 

Der Vorhang hebt sich, und am Ende des Intros liegt Carmen bereits leblos auf der Bühne, ihr Körper rollt regungslos, ein Opfer von Don Josés gnadenlosem Dolchstoß. Dies ist der schockierende Beginn von “Carmen” in der Inszenierung des Theaters Lübeck am 20. Juni 2025 – eine Eröffnung, die das Publikum sofort in den Abgrund einer unbequemen Wahrheit zieht. Diese kühne und provokative Regieentscheidung von Philipp Himmelmann ist kein bloßer theatralischer Kunstgriff, sondern ein Schlag in die Magengrube, eine explizite Erklärung. Es ist ein eindringlicher (im Sinne von gewagter) Kunstgriff, um das Publikum unmittelbar mit einem Thema zu konfrontieren, das leider tragisch in der heutigen Gesellschaft fortbesteht: Femizid.

Das Drama der Frau, die durch die Hand eines Mannes stirbt, einfach weil sie ihre Freiheit und Individualität behauptet hat, bleibt ein Tabu, ein verborgener Schmerz, den diese Produktion aufbrechen will. Carmen ist nicht länger die leichtlebige Frau, die Männer verführt, sondern ein klares und mutiges Opfer männlicher Besitzgier und possessiver Gefühle. Eine Frau, die auf ihrem freien Willen beharrt und gerade deshalb zugrunde gehen muss. Dies ist die kraftvolle Neuinterpretation des Theaters Lübeck, ein Triumph von Emotion und Leidenschaft, der tosende Applaus und eine ergreifende Standing Ovation in einem restlos ausverkauften Saal verdiente.

Die Emotion und Leidenschaft waren spürbar und wurden durch die außergewöhnlichen gesanglichen und darstellerischen Fähigkeiten der Protagonisten auf wunderbare Weise vermittelt, die es verstanden, die Komplexität ihrer Charaktere aus dieser neuen Perspektive darzustellen.

Die Produktion zeigte Ieva Prudnikovaite in der Rolle der Carmen. Die litauische Mezzosopranistin, eine bekannte Größe an den großen europäischen Opernhäusern und gefeiert für ihre Vielseitigkeit, bot eine Carmen, die von Würde und wilder Unabhängigkeit durchdrungen war und sie zu einem Symbol des Kampfes für Selbstbestimmung machte. An ihrer Seite schlüpfte Konstantinos Klironomos in die Rolle des Don José. Der griechische Tenor vermittelte mit seiner kraftvollen Stimme und dramatischer Ausdruckskraft die schrittweise, erschreckende Verwandlung seiner Figur vom obsessiven Liebhaber zum brutalen Mörder, wodurch sein persönliches Drama zu einer universellen Warnung wurde.

Jacob Scharfman erweckte den charismatischen Escamillo zum Leben. Der amerikanische Bariton verkörperte mit seiner Bühnenpräsenz und resonanten Stimme die Alternative einer weniger besitzergreifenden, wenn auch egozentrischen Liebe. Schließlich verzauberte Evmorfia Metaxaki in der Rolle der Micaëla. Die griechische Sopranistin, geschätzt für ihre lyrische Stimme und die Fähigkeit, Zartheit zu vermitteln, repräsentierte die verletzte Reinheit und das Leiden derer, die der Tragödie machtlos beiwohnen.

Der Neben-Cast trug mit bemerkenswerten Leistungen bei:

  • Changjun Lee (Zuniga): Der südkoreanische Bass, Mitglied des Opernstudios Lübeck, hat einen imposanten und autoritären Zuniga auf die Bühne gebracht und die Dynamik zwischen den Militärfiguren bereichert. Seine Erfahrung am Theater Lübeck umfasst bedeutende Rollen wie Raimondo Bidebent in “Lucia di Lammermoor” und Colline in “La Bohème”.
  • Viktor Aksentijević (Morales): Der Bariton zeigte Vielseitigkeit in seinen aktuellen Produktionen am Theater Lübeck, zu denen “Carmen”, “Tristan und Isolde” und “Der Zaubertrank (Le vin herbé)” gehören, und trug zu einem glaubwürdigen und prägnanten Morales bei.
  • Wonjun Kim (Dancaïre): Der südkoreanische Tenor, ebenfalls Teil des Opernstudios, verlieh dem Dancaïre eine listige und gut charakterisierte Stimme und zeigte sein Talent in Produktionen wie “Lucia di Lammermoor” und “Der Zaubertrank (Le vin herbé)”.
  • Noah Schaul (Remendado): Der junge deutsche Tenor interpretierte Le Remendado mit Lebendigkeit und zeigte seine wachsende Präsenz auf der Lübecker Bühne, wo er bereits komplexe Rollen wie Goro in “Madama Butterfly” und Alfred in “Die Fledermaus” gemeistert hat.
  • Andrea Stadel (Frasquita): Die lyrische Koloratursopranistin, seit der Spielzeit 2006/07 festes Ensemblemitglied, hat der Frasquita die passende Leichtigkeit und Scharfsinnigkeit verliehen, gestützt auf ihre umfangreiche Erfahrung in Barock- und Mozartopern sowie im Operettenrepertoire.
  • Frederike Schulten / Delia Bacher (Mercedes): Die beiden Mezzosopranistinnen wechselten sich in der Rolle der Mercedes ab und boten jeweils eine andere, aber gleichermaßen überzeugende Nuance der treuen Freundin Carmens. Frederike Schulten, vom Opernstudio zum festen Ensemblemitglied aufgestiegen, und Delia Bacher, mit ihrer Ausbildung am Mozarteum und in Hamburg, bereicherten die weibliche Dynamik der Oper.
  • Viola Heeß (Die Frau): Die freiberufliche Schauspielerin und Sängerin trug mit ihrer Bühnenpräsenz bei, gestützt auf ihre vielseitige Theater- und Filmkarriere, darunter auch jüngste Erfahrungen am Theater Lübeck in “Tiere im Hotel”.

Der Chor und Extrachor des Theaters Lübeck trugen zusammen mit dem Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck unter der versierten musikalischen Leitung von Stefan Vladar zu einer Performance auf höchstem Niveau bei. Der österreichische Dirigent und Pianist verstand es, Bizets Partitur zu würdigen und sowohl die Momente leidenschaftlicher Lyrik als auch die wachsende dramatische Spannung, die zur unvermeidlichen Tragödie führt, zu unterstreichen.

Die Regie von Philipp Himmelmann, die Szenografie von Dieter Richter und die Kostüme von Meentje Nielsen schufen ein unverwechselbares visuelles Erlebnis, das der beabsichtigten Botschaft diente. Philipp Himmelmann, ein renommierter deutscher Theaterregisseur, bekannt für seine innovativen Produktionen, konstruierte eine ungefilterte Erzählung, die Gewalt nicht beschönigt, sondern zeigt, um sie zu hinterfragen. Dieter Richter, ein erfahrener Bühnenbildner, entschied sich für eine bewusst karge oder “minimalistische” Bühne. Diese Wahl war weit mehr als eine Vereinfachung; sie verstärkte die Intimität des Dramas und erlaubte es dem Gesang und der Intensität der Darbietungen, als Hauptträger von Emotion und Leidenschaft zu glänzen.

Die zeitgenössischen Kostüme von Meentje Nielsen, mit einem eigenständigen Touch für die männliche Kleidung – und der interessanten Ausnahme der roten Schuhe, die am “Toleranz Donnerstag” auffielen – unterstrichen die Aktualität des Dramas. Die roten Schuhe, inzwischen ein universelles Symbol für Gewalt gegen Frauen, sind ein mächtiges Detail, das die Inszenierung noch stärker in der heutigen Realität verankerte.

Diese “Carmen” am Theater Lübeck ist nicht nur eine gut inszenierte Oper; sie ist ein Akt des Protests, eine Einladung zu einer tiefgreifenden Reflexion über ein Drama, das uns alle betrifft. Sie hatte den Mut, das Tabu zu brechen, und bot nicht nur ein unvergessliches Spektakel, sondern auch einen Moment der Katharsis und des Bewusstseins.

Elisa Cutullè

Comments are closed.