Der Auftritt der Hofesh Shechter Company mit „Grand Finale“ des israelischen Choreographen Hofesh Shechter im Großen Saal des Festspielhauses Hellerau am 1. Juni 2018 war wahrhaftig ein grandioses Finale. Das anderthalbstündige Spektakel hielt mit atemberaubender Geschwindigkeit, extremer tänzerischer Leistung und ohrenbetäubender, bis ins Innerste pulsierender, ja, infernaler Musik (es wurde Gehörschutz empfohlen; doch dank der tieferen Frequenzen war die Lautstärke erstaunlich tolerierbar) das gesamte Publikum in Bann. Die Aufführung besteht aus 2 Akten mit inszenierter Pause (Stellvertretende Künstlerische Leitung: Bruno Guillore).
Die rasanten Wechsel der Tanzszenen, die mit immerzu abrupt ein- und absetzender, von Percussion und mächtigem Bass dominierter Musik (Musik: Hofesh Shechter, Nell Catchpole, Yaron Engler) einhergehen, schafften eine Atmosphäre der Hochspannung, derart, dass man bisweilen das Gefühl für Zeit und Raum verliert. So zum Beispiel während der sich wiederholenden Rave-Szenen, in denen die Tänzer wie in Trance mit für Raves typischen Bewegungselementen tanzen. Die abgeblendete Beleuchtung (Lichtdesign: Tom Visser) mit Nebel- und Raucheffekt erzeugte dabei mit immerzu über die Bühne bewegten hohen schwarzen Wänden (die mich an die Berliner Mauer erinnern) eine räumliche Wirkung wie die einer Clubszene (Set- und Kostümdesign: Tom Scutt). Durch die Konstellation und rotierenden Bewegungsabläufe der 10 Tänzer (6 Männer und 4 Frauen) könnte man gar meinen, es seien mindestens 20 Tänzer.
Das Tempo wird ebenso mitbestimmt von den sechs Live-Musikern (mit u.a. Violoncelli, Viola, Harmonium, Gitarre, Trompete, Klarinette), die effektvoll an immer neuen Stellen der Bühne erscheinen. In der inszenierten Pause halten die Musiker direkt vor dem heruntergelassenen Vorhang eine Jam-Session und bemühen sich auf humorvolle Weise, das Publikum zum Mitsingen zu animieren. Derweilen sitzt ein Tänzer halb zusammengesunken auf einem Stuhl, um den Hals ein mit „Karma“ beschrifteten Pappschild gehängt; zwei vor den Vorhang tretende Tänzer legen ihn schließlich auf den Boden, bis er mit einem Mal blitzschnell hinter den Vorhang gezogen wird – und mit diesem komikhaften Überraschungseffekt wird der II. Akt mit dem gleichen rasanten Tempo eingeläutet wie das der gesamten Aufführung.
In einer besonders hervorstechenden Szene tanzen die Tänzer paarweise mit den Tänzerinnen, die passiv in ihren Armen hängen, als wären sie Puppen. Mit einer Bewegungssprache, die sich auf der Gaga-Methode, einer von Ohad Naharin (Chefchoreograph der Batsheva Dance Company) entwickelten Tanztechnik, gründet, gelingt es ihnen, sich auf nahezu unmerkliche Weise passiv mitzubewegen und Hebe-, Dreh- und Sprungfiguren mit sich machen zu lassen. Beinahe surreal schweben Seifenblasen herab, während sich die Tänzer in ihren passiv-aktiven Pas de deux verlieren; es ist, als beobachte man das Geschehen durch ein Fenster. Zum Ende der Szene formen die Tänzer eine dichte Gruppe, werfen eine Tänzerin, immer noch passiv, mehrmals in die Höhe und fangen sie wieder auf ihren Händen auf. In einer rhythmischen, durch eine starke Körperlichkeit charakterisierte Haka-Tanzszene treten die Tänzer mit kraftvollen, energiegeladenen Bewegungen auf, schreien und stampfen sie auf, als würden sie ihre Stärke und Kampfbereitschaft demonstrieren wollen.
Gegen Ende des Auftritts sind zu sphärenhaften Klängen zwischen zu einem engen Raum zueinander gerückten Wänden mal zwei Paare engumschlungen tanzend, mal hintereinanderstehende Tänzer mit weit geöffneten Mündern, mal ein einzelner Tänzer vor der Rückwand kniend (was in mir das Bild der Klagemauer hervorruft) zu sehen. Während diese kurzen, immerzu wechselnden Abschnitte wie Momentaufnahmen einer zunehmenden Vereinsamung der Menschen wirken, erscheinen mir die Rave-Tanzszenen als Versinnbildlichung dafür, sich in dieser sich rasant verändernden Welt mehr zu spüren zu versuchen – oder vielleicht auch, nichts mehr zu spüren.
Das Publikum tobt vor Begeisterung und es gibt stehende Ovationen für die Tänzerinnen und Tänzer und den kurz ebenfalls auf die Bühne tretenden Choreographen selbst. Ich gehe aus dieser Vorstellung, aus 90 Minuten gefühlter Tragikomödie/Apokalypse, mit einem benommenen und zugleich berauschten Gefühl heraus. Ganz wie Hofesh Shechter sagt: „Unser Job ist es, die Menschen zu inspirieren. Ich möchte Leben verändern, so wie mein Leben verändert wurde.“ („We’re in the business of inspiring people. I want to change lives, like my life was changed.” – Ich habe diese aufrüttelnde Tanzperformance der Hofesh Shechter Company als Weckruf an die Menschheit verstanden.
Johanna Wolter